Armut denken - Armut lenken

Drucke, Handschriften und Objekte erzählen aus der Frühen Neuzeit


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Das Titelblatt des Romans ‚Carl von Carlsberg‘, eine handschriftliche Armenordnung der Stadt Osnabrück (1675), das Titelblatt des ‚Dialogus' (1596), eine Abbildung des jungen U. Bräker (1798) und die Vorderseite einer münsterischen Armenmarke (1699).

Gedruckt, handgeschrieben und geprägt. © UB Osnabrück (8514-292 5; 8517-920 2; 8517-903 7) | B. Mönkediek [Drucke]; NLA OS Dep 3 b V, Nr. 1420 [Handschrift]; LWL-Museum für Kunst und Kultur, Westfälisches Landesmuseum, Münster / Münzkabinett / Foto: Stefan Kötz [Armenmarke]; Collage: J. Fesca / T. Tschiedel

Armut denken - Armut lenken. Drucke, Handschriften und Objekte erzählen aus der Frühen Neuzeit (1500-1800).

Wer in den letzten Monaten die öffentliche Berichterstattung verfolgt hat, der weiß: Die Covid19-Pandemie hat unseren Blick auf Armut in Deutschland gelenkt. Es begann mit dem bundesweiten Aufruf ‚#stayhome‘, der ein Bewusstsein für die vielen Obdachlosen in den Städten schuf und eine Debatte über den Umgang mit diesen auslöste. Die folgende Schließung der vielen Unterstützungsstellen wie Tafeln, Integrations- und Suchthilfeeinrichtungen rückte die prekären Lebensumstände vieler Haushalte in den öffentlichen Fokus. Des Weiteren zeigte sie, dass es neben der primären Armut, bei der es an lebenswichtigen Gütern mangelt, auch die sekundäre Armut gibt: Ein Zustand, bei dem der Mangel an verschiedensten materiellen und immateriellen Dingen wie Geld, Beziehungen und Sprachkenntnissen die gesellschaftliche Teilhabe erschwert oder sogar verhindert. Doch nicht nur die Situation der Bedürftigen bewegte die Gesellschaft. Aufgrund des Einbruchs verschiedenster Wirtschaftszweige und der Krise am Arbeitsmarkt geriet eine breite Bevölkerungsschicht in finanzielle Nöte. Die Angst vor dem Abgleiten in ärmliche Verhältnisse wuchs. Am Ende steht die Erkenntnis, dass ‚Armut‘ kein überholtes und uns nicht mehr betreffendes Problem ist, sondern ein dringendes und nicht leicht zu fassendes.

Die Konzeption der Ausstellung als studentisches Projekt

Unter dem Eindruck dieser Vorgänge haben sich 21 Bachelor- und Masterstudierende im Wintersemester 2020/21 der Frage angenommen: Was verbirgt sich in der Frühen Neuzeit hinter dem Begriff ‚Armut‘? Ausgangspunkt bildete die Erkenntnis: ‚Armut‘ lässt sich nicht einfach definieren. Es handelt sich dabei vielmehr um einen relativen Zustand, der je nach räumlichen, zeitlichen und gesellschaftsstrukturellen Bedingungen variiert. Maßgeblich beeinflusst wird dieser Zustand zudem von der Wahrnehmung durch die betroffene Person selbst sowie durch die der Außenstehenden, wie beispielsweise anderen Gesellschaftsschichten oder Obrigkeiten. Die Frage sollte demnach präziser lauten: Wie wurde in der Frühen Neuzeit über Arme, Armut und die Versorgung Bedürftiger gesprochen?

Anhand vielfältiger frühneuzeitlicher Schriftquellen wie obrigkeitlichen Verordnungen, wissenschaftlichen Traktaten und literarischen Texten, aber auch anhand von Epitaphen, Bettelzeichen und Armenmarken als materiellen Quellen beleuchtet die Ausstellung das Denken über Armut aus verschiedenen Perspektiven. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Punktuell werden auch das Königreich Großbritannien sowie die Alte Eidgenossenschaft miteinbezogen. Dabei wird deutlich, dass es während der Frühen Neuzeit verhältnismäßig viele Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Perspektiven im Denken über Armut und Arme gab. Zugleich hatte dies auch einen Einfluss auf das Handeln der zeitgenössisch Beteiligten. Eine Verständigung darauf, wer als arm anzusehen war konnte für den Umgang mit Armut, Armen und Bedürftigkeit nicht nur eine Orientierung bieten. Vielmehr wurde sie auch aktiv als Lenkungsinstrument genutzt – sowohl um das Verhalten der ‚Nicht-Armen‘ als auch das der ‚Armen‘ zu steuern.

Die Ausstellungssektionen

In der ersten Ausstellungssektion haben sich Annika Heyen, Alexander Hans und Felix Lange mit den spezifischen Rahmenbedingungen der zu betrachtenden Zeitspanne auseinandergesetzt. Dazu gehören neben der ständischen Gesellschaftsstruktur und dem Stadt-Land-Gefälle besonders die geistigen Umbrüche zu Beginn und Ende der Epoche: Reformation und Aufklärung. Dazwischen lässt sich hinsichtlich der Frage, wer in der Frühen Neuzeit als ‚bedürftig‘ galt, eine hohe Kontinuität feststellen. Anhand verschiedener münsterischer Verordnungen und Armenzeichen zeigen Arne Gerdes, Lukas Kues, Daniela Schnuck und Thananjayan Sivakumar, dass in der frühneuzeitlichen Wahrnehmung nicht der materielle Mangel an sich ausschlaggebend war. Vielmehr entschied unter anderem ein tugendsamer und gottesfürchtiger Lebenswandel über die Unterstützungswürdigkeit und somit über die ‚Bedürftigkeit‘ eines Armen. Dass nicht nur die Einschätzung, wer überhaupt als ‚arm‘ oder ‚bedürftig‘ galt, dem gesellschaftlichen Diskurs unterlag, zeigen Astrid Uthmann-Rothkötter, Rieke Wilken und Felix Zick am Beispiel von John Macfarlans (1740–1788) „Inquiries Concerning the Poor“. Darin schildert der Autor, welche Ursachen zu Armut führen konnten. Er unterteilt diese in körperlich bedingte Ursachen, äußere Umstände sowie von den gesellschaftlichen Normen abweichendes Verhalten.

Anstatt jedoch bei den genannten Ursachen anzusetzen und für eine Verbesserung der Gesamtsituation zu sorgen, setzte die frühneuzeitliche Armenfürsorge bei jedem Einzelnen an und versuchte, die Auswirkungen der Armut zu lindern. Lukas Attermeier, Marie Brune, David Krull und Amelie Pohlmann sind daher der Frage nachgegangen, was für ‚würdige‘ Arme getan werden sollte. Dabei liegt der Fokus neben den theoretischen Vorstellungen und normativen Vorgaben von Armenfürsorge auf der praktischen Umsetzung solcher Konzepte – unter anderem am Beispiel der Stadt Osnabrück. Was aber geschah mit den übrigen Armen – all jenen, die nicht den Kriterien der ‚Bedürftigkeit‘ beziehungsweise ‚Würdigkeit‘ entsprachen? Diesem Aspekt haben sich Esra Grun, Markus Horbach und René Schütte gewidmet, indem sie die Mechanismen der Stigmatisierung anhand einer Bettelordnung Adolf Friedrichs III. (1686–1752), Herzog zu Mecklenburg, untersucht haben. Sprachliche Abwertung, gesellschaftliche Ausgrenzung und Kriminalisierung dominieren das Untersuchungsergebnis.

Während Landesherrn ihre Vorstellungen vom Umgang mit Armen in Form von Verordnungen als normative Handlungsanweisung formulierten, versuchten vor allem ab Mitte des 18. Jahrhunderts die Volksaufklärer durch fiktive Geschichten den Menschen das ‚richtige‘ Handeln beizubringen. Ausgehend von der Frage, wie der Umgang zwischen Armen und Nicht-Armen im Sinne der Aufklärung aussehen sollte, haben sich Anna Louisa Asbrock, Matthias Heinrichs und Torben Tschiedel mit Christian Gotthilf Salzmanns (1744–1811) „Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend“ beschäftigt. Ihre Analyse zeigt, dass insbesondere wohlhabendere Menschen zu mehr Verständnis gegenüber Armen und ihren Schicksalen bewegt werden sollten. Dies entsprach der philanthropischen, also auf das Wohl der Menschen bedachten, Bewegung der Zeit. Nachdem bisher vor allem die Fremdwahrnehmung von Armut, sei es durch Obrigkeiten, Gelehrte oder Adelige, im Fokus stand, sind Lua Hara Rodrigues Petrole und Steven Weßeler schließlich noch der Frage nachgegangen, wie sich von Armut Betroffene selbst dargestellt haben. Aufgrund der sehr eingeschränkten Überlieferung von Schriftstücken, die von Armen selbst angefertigt wurden, ist diese Frage nur schwer zu beleuchten. Für die Ausstellung wurde daher auf das bekannte „Tagebuch des Armen Mannes im Tockenburg“ des Schweizers Ulrich Bräker (1735–1798) zurückgegriffen.

Wir sagen Danke!

Die beteiligten Studierenden haben sich der Aufgabe, eine virtuelle Ausstellung zu konzipieren mit viel Engagement angenommen. Obgleich damit ein hoher Arbeitsaufwand über einen langen Zeitraum verbunden war, sind sie dabeigeblieben und haben sich so manchen Schwierigkeiten gestellt. Doch ohne die Unterstützung und Mitarbeit einer Reihe von Personen wäre das Projekt nicht zu realisieren gewesen. An erster Stelle sei hier unserer Bibliotheksdirektorin, Frau Felicitas Hundhausen, gedankt, die uns in bewährter Weise mit ihrem Interesse an dem Projekt, ihrem Vertrauen und den Ressourcen der Universitätsbibliothek unterstützt hat: Beate Mrohs hat sowohl die Anschaffung der Altdrucke zum Thema ‚Armut‘ kompetent begleitet als auch die Studierenden in die Besonderheiten des ‚Alten Buches‘ eingeführt. Ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Ausstellung hat Barbara Mönkediek geleistet. Als Fotografin hat sie nicht nur eine Vielzahl der verwendeten Altdrucke für uns digitalisiert, sondern darüber hinaus auch alle Sonderwünsche unermüdlich umgesetzt. Bei der Gestaltung und Umsetzung von grafischen Darstellungen hat uns Anita Tiedtke von der Abteilung ‚Kommunikation und Marketing‘ der Universität Osnabrück mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Ihr und ihrem Kollegen Jesko Dycker, der uns in die Welt des Content-Management-Systems ‚Typo3‘ eingeführt hat und alle dort auftretenden Probleme geduldig gelöst hat, sei ebenfalls herzlich gedankt. Auch dürfen die zahlreichen Museen und anderen Institutionen nicht unerwähnt bleiben, die uns mit der großzügigen Gewährung kostenloser Bildrechte unterstützt haben. Ohne diese wäre das Projekt nicht zu realisieren gewesen. Besonders Hon. Prof. Dr. Heike Düselder, Leiterin des Museums Lüneburg, danken wir für die virtuelle Einführung in das Thema ‚Ausstellungskonzeption‘ und die hilfreichen Hinweise, was bei einer digitalen Ausstellung beachtet werden sollte. Schließlich möchten wir uns auch bei den Evangelischen Stiftungen Osnabrück bedanken, die mit ihrem Interesse an der frühneuzeitlichen Stiftungsgeschichte und besonders an der Osnabrücker Armenfürsorge den Anstoß zu diesem Projekt gegeben haben.

Julia Fesca, M. A. und Prof. Dr. Siegrid Westphal
Kuratorinnen

 

 

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