Armut denken - Armut lenken

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Sozioökonomische und politische Bedingungen von Armut

Die frühneuzeitliche Gesellschaft wird oft vereinfacht in Pyramiden dargestellt. Ganz oben befindet sich der Herrscher - in selteneren Fällen die Herrscherin - von Gottes Gnaden. Ganz unten? Die "Armen". Abbildung: Symbolische Darstellung der Stände im 18. Jahrhundert, Holzstich (um 1795) © bpk

Arme als Bodensatz der Ständegesellschaft

Armut und Arme waren elementare Bestandteile der frühneuzeitlichen Gesellschaft, der sogenannten ‚Ständegesellschaft'. Diese wird sowohl in zeitgenössischen als auch modernen Darstellungen häufig als eine Art Pyramide dargestellt (siehe Abbildung): An ihrer Spitze sitzt der Monarch – in selteneren Fällen die Monarchin –, der von Gott gewählte Herrscher. Dieser wird getragen von den ersten beiden Ständen, dem Adel und dem Klerus, die wiederum vom Dritten Stand, den Bauern, gestützt werden. Ganz unten in dieser Pyramide, alle drei Stände und den Herrscher tragend, befinden sich die Standlosen: Kleinbauern, Gesinde (Knechte und Mägde), Handwerksgesellen und so weiter.

Einfach von ‚den Armen' zu sprechen, wäre aber falsch. Armut hatte und hat bis heute viele Gesichter und hat nicht nur etwas mit fehlenden finanziellen Mitteln zu tun – es gab auch Adelige, die in finanzieller Hinsicht ‚arm' waren. Genauso entscheidend war es aber, ob eine Person über ‚gesellschaftliche Teilhabe' verfügte: Hatte sie Zugang zu Bildung? Zu bestimmten Rechten, wie dem Bürgerrecht? Hatte sie politische Macht? In der Regel bedingten diese Faktoren einander und waren vor allem in der Spitze der ständegesellschaftlichen Pyramide zu finden. Unterhalb des Dritten Standes: eher selten.

Arm zu sein in der Frühen Neuzeit bedeutete also einerseits einen Mangel an finanziellen Mitteln und andererseits einen Mangel an Einfluss und Macht. Dieser konnte eine Folge des Geldmangels sein, war aber eben auch bedingt durch den Stand – oder eben: die Standlosigkeit – einer Person. Demnach war ein sehr großer Teil der frühneuzeitlichen Gesellschaft arm, aber nicht jeder und jede Arme war auf Hilfe anderer zum Überleben angewiesen. Diejenigen, die sich selbst versorgen konnten, lebten jedoch in ständiger Gefahr, von der sogenannten sekundären, relativen in die primäre, absolute Armut abzurutschen, sei es durch Eigen-, Fremdverschulden oder durch äußere Umstände. Trotz dieser Bedrohung für weite Teile der Bevölkerung gab es vonseiten der höheren Stände keine Anstrengungen, diese generelle Armut der unteren Schichten zu bekämpfen: Armut galt als Teil der von Gott gewollten Ordnung.

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Blick ins Buch - Verordnung Kaiser Karls VI. über den Umgang mit Armen, 1713.

Arme in Stadt und Land

Gesetzestexte wie die hier vorgestellte kaiserliche Verordnung geben uns keinen tieferen Einblick in das alltägliche Leben der in Armut lebenden Menschen der Frühen Neuzeit. Doch die Dokumente selbst zeigen uns einen Wandel in der Armenfürsorge- und Sozialpolitik, die im 16. Jahrhundert ihren Ausgang nahm. Armut und die Armen selbst wurden immer mehr als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen, was eine bis ins 19. Jahrhundert reichende Umwälzung des Fürsorgesystems zur Folge hatte: Während die Versorgung der Armen noch im ausgehenden Mittelalter in der Hand der Kirchen lag, wurde sie immer mehr zu einer weltlichen, politischen Angelegenheit.

Diese Jahrhunderte umspannende Entwicklung lässt sich anhand von Dokumenten wie der kaiserlichen Verordnung nachvollziehen. Darüber hinaus geben uns die hier festgehaltenen Regelungen Aufschluss über Faktoren, die den Alltag der Armen beeinflussten. Neben der ‚Würdigkeit' einer Person spielte ihr Wohnort eine große Rolle bei der Frage, wie Armut eigentlich aussah. Es machte einen großen Unterschied, ob eine arme Person in ländlicher Umgebung oder in der Stadt lebte.

Etwa 80% der Bevölkerung im frühneuzeitlichen Europa lebte auf dem Land. Ob jemand in der ländlichen Umgebung ‚arm' war, hing vor allem davon ab, ob diese Person ein Stück Land besaß, das ausreichte, um sich selbst und die Familie zu ernähren. Diejenigen, die nicht über eigenen Boden verfügten oder deren Land einfach zu klein für die Selbstversorgung war, mussten nebenher ein Handwerk ausüben, sich als Tagelöhner oder als Heuerlinge auf größeren Höfen verdingen. Gegen Ende der Frühen Neuzeit nahm die Zahl der Armen in ländlichen Regionen drastisch zu. Was unter anderem auf das nach dem Dreißigjährigen Krieg einsetzende Bevölkerungswachstum zurückgeführt werden kann, wurde zeitgenössisch als Folge davon gedeutet, „daß sich junge liederliche Leuth unzeitig zusammen verheyrathen“ und anstatt einer ehrlichen Arbeit nachzugehen in Herbergen hausten, Kinder aufzogen und sich aufs Betteln oder schlimmer: aufs „Rauben, Stehlen und andere Unthaten” verlegten, so verrät es uns die hier gezeigte Kaiserliche Ordnung Karls VI. (1685–1740).

Mit der wachsenden Armut auf dem Land setzte eine gleichsam zunehmende Abwanderung in die Städte ein: auf der Suche nach einem Broterwerb machten sich vor allem junge Leute auf den Weg. In den Städten bildeten sie Teile der Unterschicht. Arme im städtischen Umfeld ließen sich nicht nur im Hinblick auf ihr Vermögen von besser situierten Bevölkerungsteilen unterscheiden, sondern auch in Bezug auf ihren Rechtsstatus. In der Regel verfügten Arme, vor allem Neuzugezogene, nicht über das Bürgerrecht, was nicht nur die Ansiedlung beispielsweise als Handwerker erschwerte, sondern auch den Zugang zur Armenfürsorge. Für neuzugezogene, aber auch schon länger vor Ort lebende, aber nicht sesshafte Arme waren Schenken, zumeist ärmlich eingerichtete Spelunken, das erste und oft einzige Dach über dem Kopf, das spontan zu haben war. Eine räumliche Trennung zwischen der in Armut lebenden und der wohlhabenden Bevölkerung nach Wohnvierteln stellte sich jedoch erst im Laufe der Zeit ein: Gegen Ende der Frühen Neuzeit wurden die ärmeren Bewohner zunehmend in die dichtbesiedelten Vorstädte verdrängt, wo sich Elendsviertel bildeten. In diesen waren die Faktoren, die zu allgemeiner Verarmung führen konnten, stärker zu spüren als im Rest der Stadt.

Bedürftige und Unwürdige

Nicht alle Menschen, die in ‚akuter' oder ‚absoluter' Armut lebten, also auf die Hilfe anderer zum Überleben angewiesen waren, erhielten diese auch. Entscheidend für den Zugang zu materieller Unterstützung war die Frage, ob die Betroffenen sogenannte ‚würdige' Arme waren. Das war nicht etwa eine von jedem Mitmenschen getroffene individuelle Entscheidung. Es gab Gesetze und Verordnungen der Landesherren, die genau bestimmten, wer als ‚würdig‘ einzustufen war, und wer nicht, wie beispielsweise die hier gezeigte „Land-Gebott / Gesatz und Ordnung Wie es in dem Hertzogthum Ober- und Nider-Bayrn sowol mit Unterhaltung der Innländischen Dürfftigen Hauß-Armen-Leuthen / als mit denen fremden und starcken Bettlern / Landstörtzern / umblauffend Gartten-Soldaten und andern Herrn-losen müssig-gehenden Gesinde hinfürders gehalten werden solle“, erlassen von Kaiser Karl VI. (1685–1740) im Jahr 1713. Schon der Titel verrät uns, wer eben nicht als ‚würdiger' Armer galt: Arbeitsfähige Müßiggänger, die, so die zeitgenössische Auffassung, lieber bettelnd durch die Lande zogen als sich ihr Brot mit ehrlicher Arbeit zu verdienen und die zudem noch nicht einmal ‚dazugehörten', also Fremde waren. Ausländische Bettler, Vaganten, Stationierer, Pilger, Landknechte, fahrende Schüler, Pfannenflicker, Schergen, Freileute, Schinder und „dergleichen Gesindl hätten binnen acht Tagen nach Erlass der kaiserlichen Ordnung das Herzogtum Ober- und Niederbayern zu verlassen, heißt es im ersten Paragraphen. Andernfalls drohe „Weibs- oder Manns-Persohnen“ gleichermaßen die Verhaftung und Bestrafung, reichend von „empfindlichen vilen Carwätsch-Straichen“ (Peitschenhieben) über die Ausweisung bis hin zur Todesstrafe für wiederholt aufgegriffene Personen. Die Bestrafung dieser mit Armut in Verbindung stehenden und unter dem Oberbegriff der ‚Landstreicherei' zusammenfassbaren Vergehen war Teil einer benachteiligenden Sozialpolitik gegenüber Bettlern und anderen mobilen Bevölkerungsgruppen, die bereits im 15. Jahrhundert einsetzte.

Zumindest in der Theorie sah der Umgang mit den ortsansässigen in Armut lebenden Personen anders aus, allerdings konnten die Grenzen zwischen Unwürdigen und Würdigen schnell verwischen. In der hier gezeigten kaiserlichen Verordnung wird der Umgang mit den „Innländischen“ Armen in den Paragraphen zwei bis 28 geregelt, nimmt also viel mehr Raum ein als die Gesetze zu den Fremden. Das zeigt uns, wie wichtig Zugehörigkeit zu einer Gemeinde für diejenigen war, die Hilfe benötigten. Müßiggang und Bettelei wurden jedoch auch unter den einheimischen Armen nicht geduldet. Tatsächlich wurden sowohl „die Burger in Städt und Märckten als auch die Baurs-Leuth auff dem Land” durch Ordnungen wie die Kaiser Karls dazu aufgefordert, Bettlern „etwas zu spinen“ oder andere Arbeit zu geben. Menschen, die aufgrund von Alter, Krankheit, körperlichen oder geistigen Gebrechen nicht in der Lage waren, ihr täglich Brot durch Arbeit zu erwerben, oder auch Witwen und Waisen, die ihr männliches Familienoberhaupt als Haupternährer verloren hatten, galten in der Regel als ‚würdig' und erhielten Zuweisungen von ihrer Heimatgemeinde.